Die ersten Eisenbahnstrecken der Voreifel nach dem 2. Weltkrieg (1945/46): Erlebnisse von Augenzeugen

von Hans-Dieter Arntz
23.01.2007

Das zerstörte Eisenbahnnetz musste nach dem Zweiten Weltkrieg so schnell wie möglich wiederhergestellt werden, da die notwendige Mobilität der Deutschen und die Infrastruktur dies notwendig machten.

Hierbei waren die amerikanischen Besatzer behilflich, so dass auf der Eisenbahnstrecke  zwischen Iversheim und Münstereifel sogar amerikanische Loks eingesetzt wurden. Der Augenzeuge  Wilhelm Krupp (geb.1921) berichtet hierüber.

Weiterhin nennt er Daten in seinem Tagebuch, ab wann die ersten Teilstrecken im Voreifeler Eisenbahnnetz – im Bereich der Kreisstadt Euskirchen – wieder befahrbar waren.   

1. Augenzeugen-Bericht: „Mit der 'Rocky-Mountains-Lok' ab Iversheim“

Am 7. Juni 1945 wurde Wilhelm Krupp aus dem Kriegsgefangenen- bzw. „Hungerlager Kreuznach entlassen. Am 3. April war er in dem Camp der Amerikaner eingeliefert worden. Seitdem wurde er von Hunger und Durst geplagt und war den Witterungen ausgesetzt. Vermutlich hätte die Gefangenschaft noch länger gedauert, wenn die Lagerleitung nicht Eisenbahner und Bergleute sowie Landwirte früher entlassen hätte. Der Münstereifeler aus der von Ayxstraße hatte zwar noch nie an einer Lokomotive gearbeitet, meldete sich aber unverzüglich als „Lokschlosser". Der Trick gelang. Nach fünfjähriger Berufssoldatenzeit stand Wilhelm Krupp nun da und erhielt 40 RM als „Reisekosten" ausgehändigt. Das reichte gerade für 8 amerikanische Zigaretten... Auf einem Lastwagen kam er in Sinzig an und wurde dort noch einmal von dem zuständigen Bürgermeister entlassen. Ordnung musste sein! Zu Fuß zog der Münstereifeler in Richtung Heimat. Das Elternhaus war unzerstört geblieben. Die schweren Bombenangriffe hatten jedoch große Lücken in die Nachbarstraßen gerissen. Es folgte die obligatorische Rückmeldung beim Bürgermeisteramt auf dem Klosterplatz und die Aufforderung, bald einer geregelten Beschäftigung nachzugehen. Die frühere Tätigkeit bei der Firma Hettner konnte nicht mehr aufgenommen werden, da die Anlagen teilweise zerstört waren und zusätzlich von den Besatzern demontiert werden sollten. Wilhelm Krupp fährt fort:

Ein ehemaliger Marinekamerad, einst Schreinermeister und jetzt als Nicht-PG Leiter des Arbeitsamtes, vermittelte mir bei der Reichsbahn eine Stelle als Schlosser. Meine erste Tätigkeit beim Bahnhof in Euskirchen war die Beseitigung von Trümmern. Die Anlagen und Gebäude befanden sich in einem trostlosen Zustand.

Einzig die Strecke Aachen - Düren - Euskirchen war kaum zerstört. Die zweigleisige Strecke diente den alliierten Truppen als Nachschubstrecke nach Süddeutschland. Der Verkehrsknotenpunkt Köln war gründlich zerstört; ebenfalls das Betriebswerk Euskirchen. In Bonn waren in diesen Wochen 40 deutsche und 27 amerikanische Lokomotiven stationiert, so daß wir nicht verwundert waren, hier zu Reparaturarbeiten eingesetzt zu werden. Es dürfte heute kaum glaubhaft sein, wenn ich betone, daß ich in der ersten Zeit hin und zurück zu Fuß gehen mußte. Zweimal an einem Tage 2 1/2 Stunden Fußmarsch...!!

Auch in den nächsten Monaten hatte ich Schwierigkeiten, pünktlich an meinem Arbeitsplatz zu erscheinen. Zwar wurde Ende August 1945 zwischen Euskirchen und Münstereifel ein Omnibus eingesetzt, der aber schon wenige Wochen später wegen Treibstoffmangel nicht mehr fuhr. Licht und Bereifung meines Fahrrades waren immer noch nicht vollständig, so daß ich für jede Mitfahrgelegenheit dankbar war. Jeden Morgen pendelte ein Milchwagen zwischen Münstereifel und Kuchenheim. Er fuhr über die Dörfer, um dann die Milch zur Zentrale zu bringen. Mit zwei Kollegen konnte ich mich unterwegs nützlich machen, indem wir die Kannen einsam­melten.

Wegen der Fahrt auf dem offenem Wagen kamen wir durchfroren in Euskirchen an. Bei einem Stundenlohn von 0,90 RM arbeitete ich 54 Stunden in der Woche. Als Heizer bekam ich später die ,Schwerstarbeiter-Karte', die wir der englischen Lokführergewerkschaft verdankten. Allmählich wurden die Trümmer auf dem Euskirchener Bahnhof beseitigt und die Gleise wieder befahrbar gemacht. Seit Oktober 1945 gab es wieder eine Rangierlok, die uns die Arbeit sehr erleichterte.

Am 7. Juli 1945 veröffentlichten die `Amtlichen Verordnungen' erstmals wieder einen Fahrplan der Reichsbahn und der Kreisbahn. Reisende benutzten die Kreisbahn bis Liblar und konnten von dort aus mit der Reichsbahn um 6.20 und 23.59 in Richtung Köln fahren. Interessant sind auch die Daten, die erkennen lassen, ab wann welche Bahnstrecken wieder befahrbar waren. Nach meiner Erinnerung sind folgende Daten festzuhalten:

26.05.1945 Kalscheuren – Kierberg
03.06.1945 Liblar – Kierberg
16.06.1945 Liblar – Weilerswist
15.09.1945 Euskirchen – Mechernich
03.11.1945 Weilerswist – Großbüllesheim
17.11.1945 Mechernich – Scheven

Für mich war die Eisenbahnstrecke von Euskirchen in meine Heimatstadt Münstereifel besonders wichtig. Aber hier waren alle Weichen und Brücken zerstört. Am 15. Mai 1945 hatte man damit begonnen, die Strecke befahrbar zu machen. Am 1. Oktober 1945 war eine Fahrt nach Stotzheim möglich. Wegen einer zerstörten Brücke mußte die Eisenbahnstrecke auf den Anschluß der Papierfabrik Friedrichsen verlegt werden. Bei den Firmen Greven und Hettner - zwischen Iversheim und Münstereifel - waren zwei Brücken zerstört. Daher dauerte es noch lange, ehe eine Fahrt in meine Heimatstadt möglich wurde. Ich gehörte jedoch zu den ersten, die dies Anfang Juni 1948 tun konnten. Als Heizer war ich meist auf der Strecke Euskirchen - Iversheim eingesetzt. Ich erinnere mich daran, daß wir oft länger als vorgesehen in Stotzheim und Arloff hielten, weil die Dampfentwicklung ungenügend war. Der uns zur Verfügung stehende Brennstoff war zu minderwertig.

Anfang 1946 fehlte uns eine Lokomotive zum planmäßigen Einsatz. Nur eine Maschine aus dem Bestand der US Army stand zur Verfügung. Oberlokführer Schmitz aus Weidesheim und sein Heizer Esser aus Großbüllesheim bestiegen die schwere Lokomotive. Diese zog dann die armseligen Güterwagen, die vollgepfropft waren mit Berufstätigen und Hamsterfahrern. Das war ein einmaliges Bild: Eine amerikanische Lokomotive, die sonst nur schnelle Züge über die Rocky Mountains und durch die heißen Wüsten Arizonas zog, pendelte zwischen Arloff und Iversheim! Schade, daß man damals keinen Fotoapparat besitzen durfte. Ein solches Foto hätte heute Seltenheitswert.

Die Reise von Iversheim nach Münstereifel war auch langwierig. Es bestand Fahrgelegenheit mit einem kleinen Gefährt, das von einem klapprigen Pferdchen gezogen wurde. An beiden Seiten waren Bänke angebracht, die für etwa 10 Fahrgäste gedacht waren. Vorne saß der „Fuhrunternehmer“ V. - ein Ost-Vertriebener -, der Hamsterer oder oft Schulkinder zu seinen Kunden zählte.

Bei der Rückfahrt von Iversheim nach Euskirchen waren wieder die Plätze knapp, so daß viele auf den Dächern saßen. Die Lokführer waren daher gehalten, vor Abfahrt des Zuges mit der Signalpfeife zu warnen. Diese Anordnung bestand bis 1948. Im Zeitalter der Raketen, Jumbos und Straßenkreuzer fällt es mir immer wieder schwer, zu glauben, daß die geschilderten Zustände noch keine 40 Jahre zurückliegen...

Aus: Kriegsende 1944/1945 zwischen Ardennen und Rhein (Euskirchen 1984, S. 370-372)
         Kriegsende 1944/1945 im Altkreis Euskirchen (Euskirchen 1994, S. 96-98), hier: ohne Bilder 

Ilse Schneider geb. Esch, bekannte Pianistin in Euskirchen, in der Nachkriegszeit Schülerin an der so genannten „Mädchen-Oberschule“ (heute Gymnasium Marienschule Euskirchen) berichtete für die umfangreiche Dokumentation „Kriegsende 1944/1945…“ über die anstrengende Fahrt mit der Kreisbahn, die von Euskirchen in das Vorgebirge führte. Dennoch konnte die junge Schülerin der Situation Sympathie abgewinnen, wie sie in ihrem Beitrag „Wir fahren mit der `Flutsch´ erkennen ließ.

Das legendäre Bähnchen war für „Hamsterer“, Arbeiter, Schüler oder Heimkehrer eine Institution, die auch in Karnevalsliedern oder Zeitungsserien verewigt wurde. So kann der vorliegende Augenzeugen-Bericht durch die Serie im Euskirchener Lokalteil des Kölner Stadt-Anzeigers vom 11.bis 21.März 1959 erweitert werden.

2. Augenzeugen-Bericht: Wir fahren mit der „Flutsch“

In Erftstadt-Lechenich, damals noch Kreis Euskirchen, entstand im Karneval der Nachkriegszeit ein kleines Lied zu Ehren der „Flutsch", welches begann: „Hüürs du se raggele, hüürs du se waggele, dat es unsre Flutsch!" Wie wahr das war!

Ich wurde im November 1945, als unser Schulbetrieb in Euskirchen wieder aufgenommen wurde, Fahrschülerin, was ich mir nie hätte träumen lassen. Ein halbes Jahr fuhr ich mit der Kreisbahn von Lechenich in Richtung Euskirchen, mit dieser gemütlichen, (auf der Hinfahrt!) rappeligen „Flutsch“. Das Bähnchen brauchte lange für diese 18 km. Ich mußte morgens um 6.10 in Lechenich abfahren, der nächste Zug war für den Schulbeginn zu spät.

In der Frühe brannte meistens in den Abteilen ein dürftiges Notlicht. Die Menschen in dem Halbdunkel kannten sich, zumindest vom Ansehen. Es war die Zeit der „Selbstzucht“, das war selbstgezogener Tabak oder was man als solchen deklarierte. Wenn ich das Abteil morgens betrat, war es schon dicht voller Rauchschwaden, die aus den vielen Pfeifen der Werksarbeiter kamen.

Die Kreisbahn hatte einprägsame Typen beim Zugpersonal. Da gab es einen Zugführer mit so blank gewichsten schwarzen Stiefeln, wie ich sie seither nie wieder sah. Oder der füllige Schaffner, selbst Pfeifenraucher, der mit seiner Umhängetasche gutgelaunt durch die Abteile ging und, wenn seine Pfeife beigeraucht war, mit dem Zeigefinger kokett in den leeren Pfeifenkopf tupfte: „Bei wämm kann ich ens stoppe?" - In Mülheim-Wichterich gab es immer einen nicht enden wollenden Aufenthalt; da wurde rangiert und hin und her gerannt. Plötzlich waren alle in dem kleinen Bahnhaus verschwunden, und man konnte denken, es geht nie mehr weiter.

Das war alles noch amüsant, aber bei der Heimreise um 13 Uhr 15 oder auch später wurde es dann fast kriminell. Die Zusammensetzung der Reisenden in Richtung Lechenich war nun eine komplett andere; nur wenige Schüler waren es; die Lehrlinge, Gesellen-, Verkäufer- und -innen und sonstige Arbeiter fuhren ja erst abends zurück.

Jetzt gehörte das Bähnchen den „Hamsterern“. Das waren die hungrigen Bewohner der Großstädte, die überwiegend sogar aus dem Ruhrgebiet kamen. Die Dörfer von Erp bis Elvenich waren ihr bevorzugtes Gebiet. Das war die Zeit der Naturalien-Währung; man tauschte alles Mögliche ein für die Grundnahrungsmittel. Bis Frauenberg verliefen sich meist nur einzelne, dann wurden es mit jeder Station mehr. Vor Mülheim-Wichterich gab es noch Platz - aber dann!

Niederberg, Borr, Friesheim und gar Erp - alles strömte auf das arme, kleine Bähnchen zu, und jeder mit schwerem Rucksack und Beuteln und Säcken mit Kartoffeln! Die meisten waren Frauen, abgehärmte Gestalten mit „Turban“, einem im Krieg Mode gewordenen, um den Kopf verschlungenen Wollschal, mangels Hut. Sie kämpften verbissen um den letzten Sitz- oder Stehplatz.

Die Gepäcknetze über unseren Köpfen drohten zu zerreißen. Jede freie Stelle, auch auf dem Perron, war genutzt. Spätestens in Niederberg hatte ich als „junger Mensch“ meinen Sitzplatz zur Verfügung gestellt, und von da an wurde es dann, wie ich eingangs erwähnte, kriminell, wie man so sagt. Ich wurde geschoben und gedrückt, kam zwischen immer neue Sitz-Karrees zu stehen, mußte dabei immer meine Schultasche im Auge behalten, die mittlerweile unter kleineren Säcken kaum mehr zu sehen war. In Erp geriet ich dann schon in echte Notsituationen. Ich war beständig weitergedrückt worden, schon sehr viel unsanfter, denn es hieß: „Emme dörchröttsche, die mösse noch all met."

Ab Erp fing ich dann an, um meine Schultasche zu kämpfen; mittlerweile berührte nur noch eine Zehenspitze den Boden. Von Kartoffelsäcken gestützt, konnte ich jedoch die Balance nicht verlieren. Das andere Bein wußte ich schon längst nirgendwo mehr zu lassen. Dies erlebte ich - in abgewandelter Form - täglich, wenn die „Flutsch" in Lechenich einfuhr. Dort stieg um diese Tageszeit außer mir kaum jemand aus, denn die „Hamsterer" fuhren durch bis Liblar, um dort die Staatsbahn abzuwarten. - Einmal erwog man allen Ernstes, ob man außer der Schultasche nicht auch mich der Einfachheit halber durch das Fenster reichen sollte  - damals war ich noch sehr dünn! O ja, beim Aussteigen waren immer Hilfskräfte beteiligt, allein hätte ich das nie geschafft.

1948 war diese Hamster-Epoche Vergangenheit geworden. Man sah im Rückblick nur noch die komische Seite, und so entstand im wieder auflebenden Karneval - getextet und in Musik gesetzt von uns (ich hatte mittlerweile meinen Mann kennengelernt) - eine Parodie über eine solche „Hamster“-Fahrt, mit der wir großen Erfolg hatten und bis in die Gala-Rundfunksitzung des Nordwestdeutschen Rundfunks Köln vordringen konnten.

Der Original-Beitrag von Ilse Schneider geb. Esch ist nachzulesen in:  
Kriegsende 1944/1945 zwischen Ardennen und Rhein (Euskirchen 1984, S. 499/500)
Kriegsende im Altkreis Euskirchen (Euskirchen 1994, S. 225-226)

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