Erinnern statt Vergessen:  Die jüdische Familie RUHR aus Mechernich

von Hans-Dieter Arntz
15.09.2008

Vor wenigen Tagen feierte  der Nestor der noch lebenden Mechernicher Juden, Carl Erich (Carl Eric) Ruhr, in San Francisco seinen 96jährigen Geburtstag. Zu den Gästen gehörte auch seine Tochter Doris Ruhr Strauss, die von Riverdale im Staat New York angereist war und mit mir in Kontakt steht. Im November wird sie mit ihrer Tochter ihre ehemalige Heimat Mechernich besuchen und dann in der Bahnstraße fünf „Stolpersteine“ vorfinden, deren Verlegung auf Initiative der rührigen Hauptschullehrerin Gisela Freier und ihren Schülern möglich gemacht wurde.  Am 19. September um 9.30 werden diese Erinnerungssteine von dem Kölner Aktionskünstler Gunther Demnik in den Bürgersteig verlegt. Schade, dass die anderen jüdischen Überlebenden aus Mechernich von dieser Form der Erinnerung nichts wissen, denn auch Akiva Biran wäre gerne aus Israel angereist, denn seine Eltern, Guttmann und Rebekka Kremer, wohnten ebenso in Mechernich wie auch die noch lebenden Angehörigen der Familien Heilbronn, Baruch oder Nathan. Aber wichtig ist, dass der 96jährige Carl Eric Ruhr noch erlebt, dass es zur Erinnerung an seine im Holocaust umgekommenen Angehörigen „Stolpersteine gegen das Vergessen“ gibt.

 

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Ein Foto aus dem Jahre 1946 zeigt Carl Erich Ruhr mit seiner Frau Erna geb. Heumann  und Töchterchen Doris, die im November in Mechernich sein wird. Es wurde auf Seite 292 meines Buches Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet  publiziert. Nachdem die umfangreiche Dokumentation 1990 erschienen war, schrieb mir Carl Eric: „Mit diesem Buch und ihrer Darstellung haben sie wohl den Mechernicher Juden ein Denkmal gesetzt. Vor 2 Jahren haben Sie zwar in Ihrer Rede, anlässlich der Einweihung des Gedenksteins in der Rathergasse, die Namen derjenigen verlesen, die im Holocaust umkamen, aber Ihr Buch dürfte die einzige Erinnerung  an unsere jüdische Existenz bleiben!“  Aber hier irrte sich vielleicht der Nestor der Mechernicher Juden. Die von der Pädagogin Freier initiierte Legung der Stolpersteine und die Tätigkeit von Gunther Demnik fallen deutlicher ins Auge und mahnen daher auch vor dem Vergessen.


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Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischen Grenzgebiet, Euskirchen 1990, Seite 577.
Quelle und Copyright: Hans-Dieter Arntz

 

Erinnerung an die jüdische Familie RUHR aus Mechernich
Um die Verlegung der „Stolpersteine“ historisch und genealogisch einordnen zu können, sollen folgende Anmerkungen dienen (Vgl. das o.a. Buch, S. 578/579):

Das Mechernicher Ehepaar Heinrich und Emma Ruhr geb. Katz (1879-Holocaust) hatten 5 Kin­der: Ernst (1907-Holocaust), Jetti (1906-Holocaust), Johanna (1914-1987), Robert (1919-Holocaust) und Carl Erich (geb. 1911).

Der jüngste Bruder, Robert Ruhr, wurde zwar noch im Rahmen der „Aktion gegen die Juden" am 10. November 1938 inhaf­tiert und mit 11 anderen Männern nach Sachsenhausen bzw. Oranienburg depor­tiert, ging aber sofort nach seiner Entlas­sung über die „grüne Grenze" nach Bel­gien. Auch er geriet in die Fluchtbewe­gung, nachdem die Deutschen am 10. Mai 1940 die westeuropäischen Län­der überfallen hatten. Offenbar gleicht sein Schicksal dem vieler in Belgien lebender Juden. Sein letztes Lebenszeichen kam aus dem inzwischen schon häufig erwähnten Schreckenslager Gurs. Dann verliert sich seine Spur. Das Bundesarchiv Koblenz konstatiert in den Memorbüchern Auschwitz als Ziel seiner Deportation.

Carl Erich Ruhr verzog bereits unmittelbar nach der sogenannten „Machtergreifung" von Mechernich nach Köln, um ein Visum nach Palästina zu erhalten. Doch anfangs hatte er keinen Erfolg. Erst 1936 ergab sich die Möglichkeit, mit einem von Juden gecharterten Schiff, endlich nach Südafrika auszuwandern. 525 Passagiere waren an Bord dieses Schiffes. Obwohl er kein Visum hatte, machte die Emigration keine Schwierigkeiten. Heute ist er mit Erna geb. Heumann aus Mechernich verheiratet und lebt in San Francisco.551

Nach 1938 hatte er keinen Kontakt mehr zu den in Mechernich zurückgebliebenen Familienangehörigen. Er bekam kaum noch mit, dass der einst wohlhabende Vater und Gemeindevorsteher zum Arbeiter degradiert worden war und für 18 Pfennige im Stundenlohn auf dem örtlichen Bauhof tätig sein musste. Seine beiden Häuser hatte er für einen sehr geringen Betrag zu veräußern. Nur ein Bruchteil des Erlöses stand ihm zur Verfügung; der größte Teil auf dem Sperrkonto wurde nicht ausgezahlt. Als Ende April 1941 Mechernich „judenfrei" gemacht werden sollte, beschloss das Elternpaar Heinrich und Emma Ruhr, mit dem Sohn Ernst und der etwas kränklichen Tochter Jetti nach Köln umzuzie­hen. In das Haus Riesa in Kalenberg/Gemeinde Kall wollte man nicht, da dieses als künftiges „Juden-Sammellager" bereits jetzt schon einen schlechten Ruf hatte. Am Tage der Abreise lud die benachbarte Familie H./R. die Familie zum Kaffeetrinken in die Küche ein. Während die junge Ehefrau R(...) vor dem Hause aufpasste, dass kein überraschender Kontrollbesuch erschien, machte Mutter H(...) den Kaffee und belegte Brote. Um 9 Uhr zog die vierköpfige Familie nach Köln.552 Hier war ihre letzte Anschrift Moselstraße 6, 3. Etage. Nach der Deportation der Eltern und des Bruders Ernst am 7.12. 1941 nach Riga, hatte sich Jetti Ruhr im Lager Niederbardenberg niederzulassen. Am 20. 7. 1942 wurde sie von hier nach Minsk verschickt.

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Judenverfolgung und Fluchthilfe im deutsch-belgischem Grenzgebiet

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Einweihung des Gedenksteines für jüdische Verfolgte in Mechernich am 10. November 1988

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